Halloween-Special: Die Schildkröte

Ray schlief noch, als die Sonne begann, auf den dünnen Stoff seines Zeltes zu scheinen. Er lag nur zur Hälfe in seinem Schlafsack, als er an seinem entblössten Fuss etwas Flauschiges bemerkte.


Der unregelmässige Klang eines Glöckchens drang an sein Ohr. Cosmo war anscheinend wieder einmal vor ihm aufgewacht. Mit einem wohligen Gähnen streckte er sich und grub sein Gesicht wieder in das Kissen.

 

"Aua!" Ernüchternder Schmerz liess ihn plötzlich zusammenzucken.

„Cos! Lass den Scheiss!“ schrie er auf. Cosmo erschrak ob der ruckartigen Bewegung seines ehemaligen Spielzeuges, das dummerweise der Fuss seines Herrchens war. „Gib mir noch fünf Minuten, ok? Kriegst auch gleich dein Fresschen.“ brummelte es an die Adresse des Bösewichts. Übelnehmen durfte er es seinem Haustier dennoch nicht. Ray wollte eigentlich seine Katze gar nicht an das Treffen mitnehmen, aber seit seine Schwester bei ihrem Freund eingezogen war, gestaltete sich das Haustierhüten reichlich kompliziert. Vor allem weil Cosmo ein wirklich aussergewöhnlich frecher und neugieriger Zeitgenosse war.

Zudem war keine Zeit um Nachtragend zu sein - sie mussten weiter! Nachdem das Zelt im Mietauto verstaut und die flauschige Reisebegleitung satt war, ging es über eine staubige Nebenstrasse Richtung Süden. Ray hatte noch zwei Tage bis zu seinem Ziel, und die gute Idee mit dem Campieren stellte sich mehr und mehr als dummer Einfall heraus. Natürlich kannte er sich mit Zelten aus, hatten doch er und seine Schwester des Öfteren draussen im Garten ihrer Eltern übernachtet. Doch als eigentlicher Stadtmensch forderte ihn das Nächtigen in freier Wildbahn mehr als erwartet.

 

Mücken, fremde Geräusche in der Nacht und diese dunkle Stille erschienen ihm jedes Mal unwirklich. Die fehlenden Lichter der Stadt tauchten seine Umgebung vor dem Einschlafen jeweils in ein diffuses Licht von Sternen und mitgebrachten Vanilleduftkerzen. Cosmo genoss es notabene auch nicht unbedingt, in einer engen Gitterbox durch den Südosten der USA zu reisen.

Am Abend dann dasselbe Spiel wie an den drei Tagen zuvor. Diesmal liess sich Ray jedoch mehr Zeit, einen geeigneten Platz für sein Nachtlager zu finden. Seit kurzem wusste er, dass Zelte bei Regen besser auf einem Hügel liegen, anstelle in einem zuvor ausgetrockneten Bachbett. „Erfahrung ist das, was man kriegt, fünf Minuten nachdem man es gebraucht hätte“ erinnerte er sich murmelnd an einen Spruch, welchen er einmal auf einem Zuckerpäckchen gelesen hatte.

Diesmal hatte er Glück. Wind- und regenwassergeschützt, auf einem leicht sandigen Hügelrücken gelegen, ganz in der Nähe eines zu beiden Seiten hin zugewucherten Flussarmes. Weit und breit war niemand zu sehen. Keine Menschen, keine Häuser und von der Strasse nicht einzusehen. Was durchaus von Vorteil war, bei all den schrägen Vögeln die sich so auf Highways und Nebenstrassen rumtrieben. Er hatte genug Filme gesehen, um zu wissen, was alles geschehen kann im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

 

Mittlerweile setzte sich das Zelt wie von selbst zusammen. Wieder erinnerte er sich an den Spruch vom Zuckerpäckchen. Kaum stand seine Behausung für diese Nacht, miaute es auch schon lautstark zu ihm herüber. Cosmo wollte raus!

Unter lautem Gebimmel des Glöckchens nahm er Cos aus seinem Käfig und schubste ihn sorgfältig ins Zelt, nicht ohne umgehend den Eingang zu verschliessen. Der Kater war nach längeren Autofahrten immer etwas säuerlich und versuchte jeweils, die Freiheit zwischen Gitterbox und Zelt zu verlängern. Erfolg hatte er damit allerdings selten. Ray war zufrieden. Wieder hatte er ein rechtes Stück seines Weges hinter sich gebracht, und das ohne irgendwelche Schwierigkeiten. Er vermisste zwar seine Konsole, die Chatgespräche und die Mikrowelle immer mehr, aber angemeldet war angemeldet. Also hiess es nun Katzensand wechseln und Brennholz suchen.

Nach getaner Arbeit setzte sich Ray auf den mitgebrachten Campingstuhl und redete mit seiner Katze, die immer noch wie blöd in seinem Zelt rumturnte. „Tut mir leid mit dem Käfig, aber jetzt benimm Dich nicht so… Noch einmal schlafen und wir sind da. Dann hast du eine ganze Wohnung zur Verfügung“ Cosmo guckte unbeeindruckt und antwortete mit einem mürrischen Miauwwwww.

Zugegeben, Wohnungen von Nerds waren selten spektakulär oder gar cool eingerichtet – zumindest für Aussenstehende wie Cosmo. Doch boten Pizzareste, Burger unter dem Sofa und Chips auf dem Teppich für alle Tiere, abgesehen von Blauwalen, ein unerschöpfliches Nahrungsreservoir. Und welches Tier frisst schon nicht gerne?

Ein leises Rascheln erweckte seine Aufmerksamkeit. Immer noch auf seinem Stuhl sitzend, schaute er zum Flusslauf hinunter. „Schau her, eine Schildkröte…" sagte er mehr zu sich, als zur Katze, "und was für ein Brocken!“ So ein Tier hatte er noch nie zuvor in freier Wildbahn gesehen, höchstens als er als Dreikäsehoch einmal den Zoo besuchte. Den grössten Teil von seinen Touren-ausser-Haus hatte er zwar bereits wieder vergessen, aber immerhin er erkannte alle Werbejingles innerhalb der ersten drei Sekunden. Ray überlegte kurz was er jetzt tun sollte. Hingehen und streicheln? So flauschig sah das Vieh dann aber auch wieder nicht aus. Ausserdem hatte sie die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Er beschloss die Schildkröte in Ruhe zu lassen und kam sich dabei sehr verantwortungsbewusst vor. Sein Wissen über Amphibien, Reptilien oder wie sie alle heissen, beschränkte sich auf das, was er im Discovery Channel mitbekommen hatte. Als Vollnerd galt seine Aufmerksamkeit mehr technischen Dingen, Onlinegames und halb so alten Mädchen in Wallpaperformat. Seine Exfreundin mahnte ihn damals aber, Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum nicht zu stören. Mhhh, seine Ex… Das erinnerte ihn daran, dass er schon länger keine Frau mehr gehabt hatte. Irgendwie hatte er sich erhofft, auf seiner Reise jemanden kennen zu lernen. Auch die Grösse des Zeltes würde einiges an Interaktion zulassen – so ein Fünferzelt bot viel Platz für unzüchtige Gedanken.

 

Leider traf er an der Küste nur Frauen mit zwar kleinen Hintern aber viel zu grossen, künstlichen Brüsten, während im Hinterland nur Weiber mit kleinen Titten und viel zu grossen, echten Ärschen rumliefen. Seine Vorliebe entsprach aber in etwa dem klassischen Mittelweg, obwohl er in diesem Fall wohl eine Ausnahme gemacht hätte. Ray träumte und schmunzelte.

Die Schildkröte lag noch immer da, etwa 40 Meter von seinem Zelt entfernt, platt in der Sonne. Ray starrte sie an, in Gedanken versunken und scharf wie seine Katze bis zur letztjährigen Operation. Als er aus seinen Fantasien erwachte, musterte er das Tier etwas genauer, auch wenn er viel zu faul war, hinüber zu gehen. Die schmalen Augen des Tieres schauten nun in seine Richtung und machten den Anschein, ihn zu beobachten. Dumme Kröte, amüsierte er sich, obwohl er das Tier beneidete, den ganzen Tag nur faul rumliegen zu können. Da fiel ihm ein, dass er seinen Laptop dabei hatte. Die Chance auf ein Netz war hier draussen zwar mehr als gering. Den Versuch wagte er trotzdem. Online damit anzugeben, was für ein toller Abenteurer er war, gefiel ihm und erzeugte ein kurzfristiges Hochgefühl. Falls das nichts werden würde, müsste er früher als geplant mit der Katze spielen. Oder besser gesagt, für ihre Unterhaltung sorgen bis sie eingeschlafen war. Die “Server not found“-Anzeige enttäuschte ihn dann auch mehr als erwartet. Aber egal, dachte er sich, es wird ja eh schon dunkel. Er legte noch etwas Holz auf sein Feuer und machte sich bereit für seinen Schlafsack. Sobald er aber den Reissverschluss von seinem Zelt öffnete, sprang ihm Cosmo entgegen. Wild glöckelnd stob das kleine Tier an ihm vorbei und verschwand im Unterholz.

 

„Halt! Cosmo, komm sofort zurück!“ rief er, wohl wissend, dass dies nichts bringen würde. "Dummes Mistvieh!“

 

Alle Fressifressi-Rufe brachten nichts, die Katze blieb verschwunden. Ray war klar, dass er den kleinen Wollknäuel in der einbrechenden Dunkelheit nicht finden würde. Zu oft war ihm das vorher schon passiert, doch da kehrte die Katze jeweils nach einigen Tagen zurück, um sich in seiner Küche satt zu fressen. Hier draussen würde das anders sein. Und wie gesagt, er kannte aus diversen Filmen, was wehrlosen Geschöpfen hier draussen zustossen konnte. Nach längerem Stöbern im Unterholz legte er sich dennoch schlafen und hoffte, Cos bei Tageslicht zu finden oder mit Thunfischdosen zurücklocken zu können.

Ray lag in dieser Nacht unruhig in seinem Zelt und konnte einfach nicht einschlafen. Stets dachte er an Cosmo und wie er ihn zusammenstauchen würde, wenn er wieder zurück war. Dann beschloss er wieder, ihm ein tolles Fresschen zuzubereiten und ausgiebig mit ihm zu spielen. Vorwürfe und Hätschelung wechselten sich so über gefühlte Stunden regelmässig ab.

Draussen war es dunkel. Stockdunkel! Jedes Geräusch drang wie aus Lautsprechern an Rays Ohr und nicht einmal Schatten spielten diesmal auf dem Stoff des Zeltes. Unheimlich.

Plötzlich glaubte Ray jedoch, etwas Vertrautes gehört zu haben. Leises Bimmeln drang an seinen Gehörgang: COSMO!

Sofort schnappte er sich seine Taschenlampe, schlüpfte in seine Stiefel und öffnete den Reisverschluss. Er leuchtete in die finstere Nacht hinaus. Nichts. Nur Sträucher, Schilf und das leise Plätschern des Flusses.

Halt! Da war es wieder! „gling-gling-glinglingling“ Mutig ging er an seinem erloschenen Feuer vorbei in die Nacht, ganz leise, um den Klang des Glöckchens nicht zu überdecken. Hinein ins Unterholz, wobei seine Stiefel auf den trockenen Ästen und verwelkten Laub knirschende Geräusche erzeugten. Nun hörte er die Glocke klarer, aber immer noch etwas dumpf, irgendwie anders als sonst. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Sorge seinen Kater nicht mehr zu finden und die archaische Angst vor der Dunkelheit. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe war klein, aber er stapfte unbeirrt weiter, als er unerwartet ein Knacken neben sich im Gebüsch hörte. Ray wich zurück. Was war da?

Durch irgendetwas wurde das Dickicht langsam nach vorne gedrückt. Er ging etwas zu Seite, um besser sehen zu können. Zwei unheimliche Augen glotzten ihn an.
Es war die Schildkröte!

Von Nahem sah sie noch grösser und auch weitaus bedrohlicher aus. Vom Licht der Lampe aufgeschreckt, zuckte das Tier kurz und bewegte dabei seinen massigen Körper. Ray erstarrte, als er darauf wieder den hellen Klang von Cosmos Glöckchen hörte. Er kam aus der Schildkröte!

„Schildkröten fressen keine Katzen!“ stotterte Ray. Kreidebleich und paralysiert vor Angst zielte er mit dem Lichtstrahl zu der Bestie, welche offensichtlich seinen Freund gefressen hatte. Er war nicht fähig sich zu rühren, ganz im Gegensatz zu seinem Gegenüber.

Langsam öffnete es seinen langen, mit Zähnen gespickten Schlund. Der schuppige schlanke Körper mit dem gewaltigen Schwanz richtete sich nun direkt auf das zitternde, leuchtende Menschlein.

Ray dachte plötzlich an seine Kindheit. Das Eisessen mit seinen Eltern, sein erstes Fahrrad… der Besuch im Zoo. Doch auf dieser Schildkröte sah er keinen Panzer, wo er sich hätte draufsetzen können. Vielmehr erinnerte es ihn an sein Poloshirt…

… ein langer, qualvoller Schrei zerriss die Nacht bis in weite Ferne. Ein Vogelschwarm stieg auf... dann… Stille….

 

 

Ende